Ondřej Liška
Worin besteht Ihre persönliche Motivation, sich für die deutsch-tschechischen Beziehungen zu engagieren?
Schon als Schüler, der in den 1980er Jahren in Brünn aufwuchs, habe ich verstanden, dass sich unter dem Pflaster und hinter den Fassaden dieser Stadt noch ein anderes, vielschichtiges und dramatisches Gesicht verbirgt: Die verschwiegene Geschichte des Zusammenlebens von Tschechen, Deutschen, Juden und Roma, die gemeinsam die Bevölkerung dieser Stadt ausmachten, bevor die Tragödien des 20. Jahrhunderts sie entzweiten. Ich begann nachzufragen, zunächst bei älteren Nachbarinnen im Haus, später begann ich aktiv nach Zeitzeugen und vergessenen Geschichten zu suchen. Ich fragte mich: Welcher Zusammenhang besteht zwischen unserer tschechischen Unfähigkeit und mangelnden Bereitschaft, eine faire, offene Gesellschaft zu entwickeln, und der mangelnden Bereitschaft, kritisch über die eigene Vergangenheit zu sprechen? Und so geriet ich in einen inneren und äußeren Konflikt mit dem vorherrschenden Verständnis unserer modernen Geschichte, mit der tschechischen Identität und unserer Beziehung zu unseren Nachbarn und den bei uns lebenden Minderheiten, insbesondere den Roma, die zu einem Großteil in sozialer Isolation lebten. Ein neuralgischer Punkt bei alledem war eben jene tabuisierte Zeit des Zweiten Weltkriegs, nicht nur die Verbrechen der Nazis, sondern auch der Anteil der tschechischen Gesellschaft an der Ermordung der tschechischen Roma und an der Vertreibung der hier lebenden Deutschen nach dem Krieg. Ich versammelte um mich eine Gruppe von Freunden und Altersgenossen, und gemeinsam stellten wir eine Serie von Initiativen auf die Beine (so z. B. einen Aufruf an die Stadt Brünn, sich mit dem „Brünner Todesmarsch“ auseinanderzusetzen, Renovierungen jüdischer und deutscher Denkmäler etc.). Diese sollten der gegenwärtigen tschechischen Gesellschaft helfen, die Vergangenheit in einem neuen Licht zu sehen, jedoch stets mit einem Ziel, das auf unsere Gegenwart und Zukunft gerichtet war. Was zum Beispiel muss man tun, damit Deutsche und Tschechen die Tabus und Traumata der gegenseitigen Beziehungen überwinden? Wie kann man die Kräfte bündeln, um Frieden in Europa und auf der Welt zu erreichen? Und wie kann man gerechte Lebensbedingungen für alle schaffen, egal welcher Hautfarbe, Konfession oder Herkunft sie sind? Das Thema der deutsch-tschechischen Beziehungen gehört für mich und für einen Teil meiner Generation zu unserem Weg hin zu einer offenen Identität, die sowohl eine tschechische wie auch eine europäische und allgemein menschliche ist.
Welche Bedeutung hat/hatte Ihrer Meinung nach die Gründung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds?
Eine ganz grundlegende. Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Bemühens um die Erneuerung der gegenseitigen Beziehungen zwischen zwei Gesellschaften, die noch vor Kurzem, vor ein paar Jahrzehnten, von gegenseitigem Hass getrieben waren. Nicht alle teilten diesen Hass, viele bezahlten dafür, dass sie sich gegen ihn auflehnten. Allen, die damals wie heute daran arbeiteten, Brücken zwischen beiden Gesellschaften zu bauen, gebührt große Anerkennung. Der Zukunftsfonds spielte dabei eine grundlegende Rolle, indem er die Entwicklung all dieser Bemühungen ermöglichte, und zwar auf allen Ebenen, der kulturellen, der politischen, der sozialen wie auch der praktischen Ebene zwischen einzelnen Menschen, Gemeinden sowie zwischen den Gesellschaften.
Was ist aus Ihrer Sicht das größte Verdienst des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds?
Sein größtes Verdienst besteht darin, dass er seiner Mission treu geblieben ist und trotz aller politischen Umschwünge und Erschütterungen in Regierungen und Parlamenten durchgehalten hat. Dies ist das große Verdienst all jener, die an der Spitze des Fonds wie auch in seinen Organen und Sekretariaten tätig waren. Alle, die ich kennengelernt habe, verband trotz unterschiedlicher politischer Meinungen der leidenschaftliche Wunsch, zu Freundschaft, Frieden und zur positiven Entwicklung beider Länder wie auch Europas beizutragen. Es gibt eine Vielzahl guter Projekte, die der Fonds in diesen Jahren gefördert hat, Dutzende davon sind mir im Gedächtnis geblieben. Das Wichtigste ist, dass er überhaupt gegründet wurde, dass er gut verankert ist, auf ausgewogene Art und Weise geleitet wird und als historisches Beispiel eines erfolgreichen Bemühens um Vergangenheitsbewältigung im Interesse einer gemeinsamen Zukunft dienen kann.
Was würden Sie sich für die Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehungen wünschen?
Leider wird eine Reihe gegenseitiger Vorurteile durch politische Kräfte aus beiden Ländern wiederbelebt, die nach Isolation und nach Wiedererrichtung trennender Mauern streben. Ich wünsche mir, dass sich – wie bisher – auch künftig Menschen finden, die die Erinnerung an vergangene Tragödien auch in der Gegenwart wachhalten und die rechtzeitig und wirksam ihre Stimme für Freiheit, Verständigung und Zusammenarbeit erheben.